Für das Lernen mit Kindern kann das Wissen um den richtigen Lernkanal mehrfach genutzt werden. Machen Sie sich bewusst, dass Sie nicht automatisch die gleichen Sinnes- und Wahrnehmungskanäle bevorzugen wie Ihre Kinder. Innerhalb einer Familie können die Vorlieben sehr unterschiedlich sein. Wünschenswert wäre es, dass Kinder lernen, dies bei anderen Menschen, seien es Geschwister, Eltern, Lehrer oder Mitschüler einzuschätzen.
Manchmal aber funktionieren wir so automatisiert, dass es eine ganze Weile dauert, bis wir bestimmte Zusammenhänge erkennen.
Es gab eine Szene, die sich bei uns zu Hause mehrfach in der Woche wiederholte. Im Laufe des Nachmittags rief mein jüngster Sohn nach seinem Vater, um ihn bei seinen Mathematikhausaufgaben um Hilfe zu bitten. Mit der Bemerkung: „Ich verstehe Mathe nicht!“, löste er aus, dass sein Vater sich das Mathematikbuch geben lies und sagte: „Zeig mal, was habt ihr denn auf!“
Laut las er die Aufgabe vor. Und dann geschah folgendes: Manchmal konnte er sich jede Erklärung sparen, da mein Sohn sofort einwarf: „Ach so, muss ich da … !“ Er erklärte die Aufgabe mit seinen Worten, sein Vater stimmte ihm zu und wunderte sich nur, warum er vorher die Aufgabe nicht verstanden hatte. Was war passiert?
Ganz einfach! Mein Sohn hatte sich das Lesen gespart! Er lies sich lieber vorlesen, denn ein engagierter Leser war er im Gegensatz zu seinen Geschwistern nie gewesen. Unbewusst hatte er eine Strategie entwickelt, dass sein Hörkanal angesprochen wurde, indem er seinen Vater bat, ihm die Aufgabe vorzulesen, und gab sich selbst damit eine Gelegenheit des lauten Erklärens.
Ebenfalls kann dieses Wissen um den richtigen Lernkanal für schulische Aufgaben genutzt werden. Zum Beispiel für Aufsätze oder Referate. Ein Aufsatz ist umso spannender, je mehr Kanäle des Lesers angesprochen werden. Was sehe ich? Was höre ich? Wie fühlt es sich an?
Bei Referaten kann dies ebenso berücksichtigt werden. Die Kombination aus Fakten, Bildern, Diagrammen, Geschichten bzw. Anekdoten im Wechsel spannend vorgetragen, wird ein Referat für ein breites Publikum interessant machen und die Aufmerksamkeit aller Mitschüler halten.
Meiner Erfahrung nach kommt es vor, dass besonders in angespannten Situationen bei vielen Schülern der unliebsamste Kanal auch am schnellsten blockiert. Lassen sie mich vor diesem Hintergrund noch einmal zwei Schüler und die Auswirkungen auf ihr Lernverhalten beschreiben:
Gerion ist 14 Jahre alt, liebt Tiere und die Natur und ist sehr bewegungsfreudig. Sportlich aber ist er nicht. Er ist sehr kommunikativ, redet gerne mit anderen Menschen, zum Leidwesen der Lehrer auch gerne mit seinen Mitschüler im Unterricht. Mit den Mädchen in seiner Klasse kommt er besser zurecht als mit den Jungen. Er liebt Musik und Hörbücher. Seit 6 Jahren spielt er Klavier, sehr gefühlvoll und ausdrucksstark und kann jedes Musikstück, das ihm bekannt ist innerhalb von Minuten fehlerfrei nachspielen. Nur das Spielen nach Noten will ihm bis heute nicht glücken, denn Notenwerte umzusetzen, fällt ihm sehr schwer. Zum Glück hat er einen Klavierlehrer, der dies erkannt hat und sich darauf eingelassen hat, ihm das Begleiten eines Musikstückes ohne Noten und freie Improvisation beigebracht hat. Sonst hätte Gerion, wie er selbst sagt, das Klavierspielen längst aufgegeben. In der Schule lässt Gerion sich sehr schnell durch Geräusche ablenken, sein Gehör ist außergewöhnlich gut ausgebildet. So äußerte er in einer Förderstunde, dass ihn das Ticken der Uhr auf der Fensterbank in seinem Klassenraum nervös machen würde. Die Lehrerin und seine Mitschüler konnten überhaupt kein Ticken wahrnehmen. Erst, als sie die Uhr direkt an die Ohren hielten. Gerions größtes Problem sind schriftliche Aufgaben, seien es Hausaufgaben oder Klassenarbeiten. Nach einer Klassenarbeit kann er mir detailliert beschreiben, welche nervösen Geräusche seine Mitschüler von sich geben. Der eine klopft mit dem Bleistift, der nächste scharrt unruhig mit seinen Schuhen auf dem Lenoliumboden usw. Seine Lesekompetenz ist zwar sehr gut, er liest mit Betonung und viel Gefühl, aber Inhalte sprachlich zusammenzufassen, findet er sehr mühselig. Strukturen und Ordnungen und alles was mit Mathematik zu tun hat, ist im ein Greuel und bis heute hat er Schwierigkeiten in den Grundrechenarten. Besonders die Division (Teilen) mag er gar nicht. Aber wenn er mit dem Kartenspiel Limes, die Variante mit den Divisionsaufgaben spielt, er nicht gleichzeitig schreiben muss, scheinen die Aufgaben leichter zu sein. Und bei einem Kartenspiel quatscht ja auch immer etwas zwischenrein. Sicherheit in der Rechenart bekommt er aber auch dadurch. Bei Klassenarbeiten helfen ihm vor allem zwei Strategien: Zum Einen darf er sich bei Bedarf in einen Nebenraum setzen, um ungestört seine Arbeit zu schreiben, und zum Anderen bekommt er bei umfangreichen Aufgabenstellungen nicht die kompletten Aufgaben der Klassenarbeiten, sondern nur 1-2 Aufgaben. Denn eine Mathematikarbeit mit 14 Aufgaben wirkt auf ihn wie ein unüberwindbarer Berg. An kleinere überschaubare Portionen aber wagt er sich eher heran.
Lorenz besucht die 6. Klasse eines Gymnasiums. Als er seine Mathematikarbeit wiederbekommt, ist er ganz und gar nicht zufrieden. Nur eine 4 – . Er blickt auf die Aufgaben, stutzt und wundert sich. „Ich weiß auch nicht, warum ich die beiden Aufgaben nicht gerechnet habe, die kann ich! Da bin ich ganz sicher. An mangelnder Zeit kann es nicht gelegen haben, denn der Kommentar seines Lehrers unter der Arbeit lautet: Lorenz, warum hast du schon 20 Minuten vor Schluss abgegeben? Seine mündliche Note in Mathematik ist eine glatte 2, seine schriftlichen Arbeiten im Schnitt 1-2 Noten schlechter. Lorenz ist immer froh, wenn er abgeben kann und diese lästigen schriftlichen Arbeiten hinter sich hat. Sein Lehrer lässt sich auf einen Versuch ein. Bei der nächsten Arbeit erinnert er Lorenz daran eine Pause einzulegen. Nur zwei bis drei Minuten. In dieser Zeit schaut Lorenz bewusst nicht mehr auf die Arbeit, sondern entspannt sich und lauscht nur den Geräuschen, die er um sich herum wahrnimmt. Er konzentriert sich bewusst auf seinen Hörkanal, seinen bevorzugten Wahrnehmungskanal beim Lernen und schaltet den visuellen Kanal, der eher überlastet zu sein scheint, damit aus. Nach der kurzen Pause arbeitet er schriftlich weiter. Insgesamt macht er drei kleine Pausen, nutzt die gesamte Zeit für die Klassenarbeit und kann an dem Ergebnis ablesen, dass es sich gelohnt hat. Unter der nächsten Arbeit steht die Note 2 -.
Besonders bei Kindern, die weniger den visuellen Kanal als andere Wahrnehmungskanäle benutzen, hört man wiederholt ähnliche Aussagen. Die mündliche Mitarbeit ist in der Regel besser als die schriftlichen Arbeiten. Häufiger Kritikpunkt ist die Heftführung und die unleserliche, unsaubere Handschrift. Mit Hinblick auf die Tatsache, dass jeder Ausbildungsweg mehr oder weniger das Arbeiten mit Texten erfordert, ist es jedoch durchaus wichtig, auch den visuellen Kanal ausreichend nutzen zu können.
Wenn man Schüler das Wissen über die Sinnes- und Wahrnehmungskanäle vermittelt, finden sie es in der Regel sehr spannend, sich daraufhin die Lehrmethoden der Lehrer/innen anzuschauen und zu versuchen, diese einzuordnen. Danach können sie unter anderem sehr genau abschätzen, in welchen Fächern ihre mündliche Mitarbeit mehr ins Gewicht fällt, oder in welchem Fach sie damit rechnen müssen, dass Hefte eingesammelt und benotet werden, wenn dies die Lehrer nicht angekündigt haben. Und es macht einen Riesenunterschied, denn einem Schüler mit diesem erworbenen Wissen, kann ich die Wahl überlassen, in welchen 1- 2 Fächern er im nächsten Halbjahr die Heftführung optimieren will.
Vorsicht ist meines Erachtens vor allem bei Tests angezeigt, die nur allzu schnell den Lerntyp bestimmen wollen. Besonders Legastheniker sind ein gutes Beispiel dafür. Viele Legastheniker sind visuelle Lerntypen, allerdings können sie ihre visuelle Fähigkeit beim Erkennen und Umsetzen von Buchstabenbildern oft nicht nutzen.
Es gibt durchaus andere Faktoren, die eine ebenso wesentliche Rolle spielen. Dazu gehört die Lernstoffvermittlung, d.h. die gleichen Lerninhalte können entweder spannend verpackt oder langweilig vermittelt werden. Entscheidend ist hierbei vor allem, ob der Lehrende von dem, was er unterrichtet, selbst begeistert ist. Wenn jemand mit Begeisterung erzählt, Bilder visuell spannend einsetzt und mich als Zuhörer wahrnimmt, d.h. er ehrlich bemüht ist, mir den Stoff zu vermitteln, dann bin ich neugierig und entspannt, kann wesentlich leichter Neues aufnehmen und höre interessierter zu.
Entscheidend ist auch wie groß und abwechslungsreich die Palette der Lernmethoden eines Lehrenden ist, ob der Lernende genügend Vorkenntnisse hat, um neue Informationen mit bekannten Inhalten zu verknüpfen, seine Fähigkeit Strukturen zu erkennen oder abstrakte Inhalte umzusetzen.
Da wir im Alltag alle Wahrnehmungskanäle benötigen, ist es also nicht hilfreich eine vorschnelle Typisierung vorzunehmen oder zu sagen, mein Kind ist halt ein visueller Lerntyp …
Auch unsere Wahrnehmungsfähigkeiten sind veränderbar, da wir ja ständig Neues hinzulernen können. Entscheidend ist vielmehr, dass
- es darum geht, Fähigkeiten auszuweiten, auch durch entsprechend neu erlernte Methoden
- ich erkenne, welche Methoden mir die größten Lernfortschritte sichern
Generell ist es auf jeden Fall hilfreich, wenn Kinder sich den Lernstoff über möglichst viele Sinneskanäle einprägen und verarbeiten. Denn je mehr Wahrnehmungsfelder im Gehirn beteiligt sind, desto mehr gedankliche Verknüpfungen können zu dem Lernstoff hergestellt werden. Damit wiederum können die Aufmerksamkeit und Lernmotivation gesteigert und ein größerer Lernerfolg erzielt werden.