Überforderung und Unterforderung
Wann sprechen wir von Überforderung?
Von Überforderung spricht man, wenn man eine Leistung von mir erwartet, die über meine Fertigkeiten, Fähigkeiten, meine Kräfte oder Kenntnisse hinausgeht. Meine Wahrnehmung funktioniert in solchen Momenten recht gut und ich kann erkennen, dass eine Aufgabe mich überfordert und ich eben nicht über die ausreichenden Fähigkeiten und Kenntnisse verfüge. Solche Situationen kommen nicht nur in der Schule vor, sondern selbstverständlich ebenso im Alltag. Wir benutzen dann häufig Redewendungen, die unsere Überforderung zum Ausdruck bringen: Wie soll ich das alles schaffen! Das ist mir zu viel! Das kann ich gar nicht!
Überforderung in der Schule
Wie aber sieht es nun bei Kindern aus, die beim schulischen Lernen überfordert sind? Was gilt es da zu berücksichtigen? Zunächst einmal ist es so, dass ständige Überforderungssituationen bedeuten, dass ich dem aktuellen Stoff nicht folgen kann. Die Lücken im Bereich des Lernens werden, vor allem wenn Grundkenntnisse fehlen und es sich um aufbauenden Stoff handelt, zu immer größeren Lücken führen. Dies hat wiederum zur Folge, dass Kinder und Jugendliche Schwierigkeiten mit Konzentration und Aufmerksamkeit haben. Da sie sich trotzdem bemühen, werden sie auch immer häufiger verwirrt sein und erleben diesen Zustand als unangenehm. Sie stecken fest in einem Teufelskreis. Hier gibt es häufig keinen anderen Weg, als diese Lücken zu schließen. Darum muss man im Lernstoff zunächst soweit zurückgehen, bis das Kind problemlos den Lerninhalten folgen kann. Oft ist es so, dass Eltern und Kinder zwar einsichtig sind, der Schulalltag jedoch seine Anforderungen mit sich bringt. Schließlich geht das Unterrichtsgeschehen weiter und neuer Stoff kommt hinzu. Das bedeutet einen zusätzlichen Zeitaufwand aufzubringen, um neben den täglich anfallenden Hausaufgaben sich auch noch mit entstandenen Lernlücken beschäftigen zu können. Je nachdem wie groß die Lücken sind, sollten Sie sich professionelle Hilfe holen und einen Rahmen finden, der für das Kind überschaubar ist. Schließlich brauchen Kinder auch Freizeit, denn das tägliche Miteinander ist umfassender in seinen Anforderungen, als nur das schulische Lernen.
Beobachten Sie Ihre Kinder beim Lernen genau
Kinder beim Lernen aufmerksam zu begleiten, heißt für uns Erwachsene u. a., dass wir erforschen, wo genau die Auslöser für Unaufmerksamkeit und Unkonzentriertheit liegen. Wir müssen zunächst herausfinden, wo und wann unsere Kinder überfordert sind, und dann in der Folge oft unkonzentriert wirken.
Es ist erwiesenermaßen sinnvoller jeden Tag 10 Minuten zusätzlich zu investieren um Lücken zu schließen, als nur einmal in der Woche 1- 2 Stunden am Stück Dinge aufzuarbeiten! Dabei müssen Interesse und Motivation stimmen. Das heißt auch, dass ein Kind sehr konkret durchschauen sollte, warum es diesen Mehraufwand betreiben soll.
Verständnisvolle Sätze sind hilfreicher als Ermahnungen „Das ist ganz schön kompliziert!“, „Ich verstehe das!“,e „Ich kenne das auch, jemand erklärt mir etwas und ich verstehe nichts!“, helfen Kindern mehr als vorschnelle Vorschläge. Und – natürlich kennen wir das selbst. Oder haben Sie noch nie die Seite eines Buches gelesen und unten auf der Seite angekommen festgestellt, dass Sie nicht mehr wussten, was Sie da wirklich gelesen haben? Dass Sie in einem Gespräch zustimmend genickt haben, aber mit den Gedanken schon ganz woanders waren? Oder dass Ihnen jemand etwas erklärt hat und Sie so taten, als wenn Sie es verstanden hätten, aber in Wirklichkeit…
Fragen Sie die Kinder! Ich gebe zu, dass es etwas Übung erfordert, konstruktive Fragen zu finden. Manchmal scheint es schneller zu gehen, wenn wir eine Lösung vorgeben oder die Kinder auffordern, einfach unseren Ratschlägen zu folgen. Z.B.: „Du brauchst das doch nur so und so zu machen“, oder „Mach das doch einfach so“, oder „Ich hab dir doch gesagt, wie du das machen sollst…“ Das Geheimnis zum dauerhaften Erfolg liegt jedoch darin, selbst Lösungen zu finden oder sie zumindest gemeinsam zu entwickeln. Wenn Kinder lernen, dass jede Frage ihre Berechtigung hat, dass es keine dummen Fragen gibt, dann werden sie, wenn sie direkte Hinweise wünschen, danach fragen!
Akzeptieren Sie auch wiederholtes Fragen
Ich weiß allerdings aus vielen Gesprächen mit Kindern, dass sie auch Menschen begegnen, die auf wiederholte Fragen mit dummen Kommentaren reagieren, wie: „Wie oft muss ich das noch erklären?“, „Hast du mir nicht zugehört?“, „Wie dumm kann man eigentlich sein? Das müsstest du aber eigentlich wissen!“,“Das hab ich dir doch schon tausend mal erklärt! Wie dumm bist du denn?“, „Wie, das weißt du nicht? Das habt ihr doch bestimmt in der Schule durchgenommen. Hast du wieder nicht aufgepasst!“
Auch eine wiederholte Frage heißt nicht zwangsläufig, dass ein Kind nicht zugehört hat. Und wenn, dann ist es eben so. Die Hauptsache ist doch, sie trauen sich nachzufragen. Notfalls noch mal und noch mal. Wichtig ist, dass Kinder und Heranwachsende in ihrem direkten Umfeld Menschen kennen, die offen sind für Fragen, und diese nicht durch abwertende Kommentare, ironische Bemerkungen, Schuldzuweisungen oder allgemeine Floskeln im Keim ersticken.
Beruhigend ist für mich in diesem Zusammenhang, dass die meisten Schüler und Schülerinnen, die ich kennen gelernt habe, ein sicheres Gespür dafür haben, welche Menschen, seien es Lehrer, Eltern oder andere Personen in ihrem Umfeld, diese Bedingungen erfüllen. Gott sei Dank funktioniert die Wahrnehmung bei den jungen Menschen in diesem Bereich ausgezeichnet.
Lukas, ein hyperaktiver Junge
Lukas ist ein aufgeweckter, neugieriger Junge, der als hyperaktiv diagnostiziert wurde. Im Unterricht wirkt er oft motorisch unruhig und ist mit seinen Augen und Ohren überall gleichzeitig. Dennoch bekommt er alles mit, und nimmt die Lehrerin ihn unvermittelt dran, weil sie glaubt, dass er nicht aufpasst, hat er dennoch sofort die richtige Antwort parat. Obwohl seine motorische Unruhe es nicht so erscheinen ließ, hatte er alle wichtigen Informationen mitbekommen. Lukas aber beklagt sich bei mir, dass jedes Mal, wenn er nachfragt, die Lehrerin ihm unterstellt, er hätte nicht zugehört und mal wieder nicht aufgepasst. „Aber“, beschwert er sich, „ich habe es nur nicht verstanden, wenn ich frage.„
Nachdem wir uns eine Weile über sein Problem unterhalten hatten und ihm bewusst wurde, dass die Lehrerin falsche Schlüsse aus seiner motorischen Unruhe zog, kam er auf die für ihn rettende Idee. Er mochte seine Lehrerin und war sich sicher, dass er ihr und sich selbst helfen könnte, wenn er seine Fragen anders formulierte. Statt z.B. zu sagen: „Wie geht das denn?“ wollte er beim nächsten Mal folgendes ausprobieren. Er nahm sich vor, den Satz anders zu beginnen: „ Frau K., ich habe gehört was sie gesagt haben, aber ich habe es trotzdem nicht verstanden. Können sie es noch einmal anders erklären!“
Meines Erachtens eine beachtliche Leistung für einen Viertklässler.
Ermutigen Sie Ihr Kind, Fragen zu stellen
Andre besucht die 9. Klasse einer Förderschule Lernen. Es ist im sehr wichtig vor seinen Mitschülern cool zu wirken. Dennoch ist er trotz seiner Beeinträchtigung sehr wissbegierig und hat viele Fragen. Eines Tages fragt er mich: Kannst du mir den Unterschied zwischen „Geschichte“ und „Erdkunde“ erklären. Ich hab das bis heute nicht kapiert, wo der Unterschied ist. Nachdem ich ihm den Unterschied erklärt hatte, sagte er dann: „Weißt du, ich glaube, die anderen in meiner Klasse wissen das alle und wenn ich das meinen Lehrer frage, macht der sich nur lustig und sagt: ‚Das ist doch nicht dein Ernst, dass du das immer noch nicht weißt.‚“
Andre kann sehr genau einschätzen, wen oder was er in der Schule fragen kann, vor allem ohne sich lächerlich zu machen.
Manchmal erlebe ich aber Eltern, die sich darauf versteifen und ihre Kinder immer wieder nur auffordern: „Das musst du den Lehrer fragen!“, „Wofür gibt es die denn?“, „Das soll der dir mal erklären!“ Oder Eltern, die sich bei mir beklagen: „Die macht nur nicht den Mund auf! Wenn die sich trauen würde nachzufragen, würde sie…“
Untermauert werden solche Sätze dann gerne mit Kommentaren wie: „Du bist bestimmt nicht die einzige, die das nicht verstanden hat.“
Das mag alles stimmen. All das setzt aber voraus, dass Fragen wohlwollend aufgenommen werden, dass Schüler ermutigt werden, Fragen zu stellen, dass wiederholte Fragen nicht gewertet werden als „vorher nicht aufgepasst“ usw. Ermutigen Sie Ihre Kinder Fragen zu stellen, beobachten Sie sich selbst, wie Sie generell auf Fragen Ihrer Kinder reagieren und vertrauen Sie der Wahrnehmung Ihrer Kinder.
Unterforderung
Ebenso wie durch Überforderung, kann unsere Aufmerksamkeit und Konzentration auch durch Unterforderung beeinflusst werden.
Wer hört sich schon mit Begeisterung mehrmals das gleiche an, wenn es doch schon sicher abgespeichert ist. Dann schalten wir einfach ab. Unser Gehirn möchte gerne (frisches) Futter haben! Bekommt es immer wieder zu wenig Futter oder immer dasselbe, entsteht Langeweile, Desinteresse bis hin zu Müdigkeit. Um unserem Gehirn Abwechslung zu verschaffen, nutzen wir dann auch wieder unsere Phantasie. Im Außen kann das bedeuten, dass wir unaufmerksam werden und nicht mehr bei der Sache sind. Darüber hinwegzugehen und diese Tatsache nicht anzuerkennen, kann auch bei Unterforderung zu einer Verweigerungshaltung oder psychischen Symptomen bei Schülern führen.
Egal, ob Ihr Kind unaufmerksam, unkonzentriert, über- oder unterfordert ist oder wirkt, benennen Sie es, ohne es als etwas negatives zu bewerten. Zeigen Sie Mitgefühl, verzichten Sie auf wertende Äußerungen und bieten Sie Ihre Unterstützung an, damit Lernsituationen angenehmer und entspannter werden.
Wenn es so ist, dass sich Ihr Kind schlecht konzentrieren kann, sollten Sie beobachten, ob dies in allen Fächern der Fall ist oder nur in einzelnen Fächern bzw. bei bestimmten Aufgaben. Konzentrationsschwierigkeiten bei bestimmten Lerninhalten weisen auf andauernde Überforderung und eventuell entstandene Lücken hin. Das kostet viel Energie. In der Folge ist die individuelle „Lernbatterie“ dann schneller leer.
„Üben und nochmals Üben!“ ist häufig nicht die Lösung des Problems. Vielmehr müssen Sie im Stoff zurückgehen, und zwar bis zu dem Punkt, an dem Ihr Kind noch in der Lage ist, den Lerninhalten sicher folgen zu können.