Liebe Eltern!
Die Zeit der Sommerferien ist da. Kürzlich las ich in einem Artikel, dass Forscher festgestellt haben, dass viele Kinder während der langen Ferien im Sommer ihren Schulstoff wieder vergessen.
Vielleicht gehören Sie zu den Eltern, die jetzt innerlich nicken und seufzend denken: „Ja, die Erfahrung haben wir auch schon gemacht. Und dann noch die ganzen Wochen Home-Schooling, in denen auch nicht viel Neues hinzugekommen ist.“
Was aber vergessen die Kinder wirklich?
Zum einen sind es Informationen, die noch nicht automatisiert (also ganz sicher abgespeichert) sind. Zum anderen Dinge, die nicht alltags- oder lebensrelevant sind bzw. im Alltag der Kinder keine Bedeutung haben. Oder es sind Dinge, die sie rein mechanisch auswendig gelernt haben, ohne sie in ihrer Tiefe durchdrungen zu haben.
Ich bin überzeugt, dass Ihre Kinder in den Ferien eine Menge gelernt haben, und ich hoffe, dass Sie dies auch erkennen können.
Doch was könnte das sein, was Ihre Kinder alles gelernt haben? Besonders, wenn der Schulstoff doch in den Ferien gerne, soweit es geht, vermieden wird.
Ganz einfach: Ihre Kinder haben an ihren Erfahrungen gelernt. Denn Lernen findet in jedem Moment statt und ist definitiv nicht auf die Schule begrenzt. Besonders im Spiel und im Zusammensein lernen Kinder unglaublich viel und ich würde mir wünschen, dass auch Sie auf die Ferien als eine wunderbare sommerliche Lernzeit alternativer Art zurückblicken können.
Vielleicht können Sie als Eltern sogar einiges an Erfahrungen bezüglich spielerischen Lernens aufgreifen und auf die bevorstehenden Schulwochen übertragen. Stellen Sie sich doch einmal folgende Fragen: Wann und bei welchen Gelegenheiten waren Ihre Kinder richtig begeistert? So begeistert, dass sie sogar freudig erregt waren?
Aufgeregt und freudig erregt zu sein bedeutet nämlich eine hohe emotionale Beteiligung während des Lernens. Immer dann, wenn beim Lernen positive Emotionen beteiligt sind, lernen wir leichter.
Zu den Geheimnissen des erfolgreichen Lernens gehört dabei außerdem als erstes: Beziehung! Gerade Pflegeeltern wissen das aus Erfahrung. Sie erzählen mir immer wieder, wie ihre Kinder, nachdem sie zu ihnen gekommen sind, hinzugelernt haben. Sprechen, singen, Fahrrad fahren – in kürzester Zeit fand ein erstaunliches Lernwachstum statt. Das ist Lernen pur! Und ich kann die Begeisterung in den Augen der Pflegeeltern sehen, wenn sie mir davon berichten. Aber… und das frage ich Sie: Wie haben sie das nur geschafft – ohne Curriculum, in dem steht, was sie zu tun haben?
Alles, was die Kinder für dieses Lernen brauchten, war Beziehung, Sicherheit und das Gefühl, als Kind gesehen zu werden. Gesehen zu werden mit den eigenen Bedürfnissen und allem was sie ausmacht. Kurz gesagt: Da ist jemand, der mich liebt, so wie ich bin. D.h. wie haben Sie als Erwachsene dies gelernt, nämlich dass Kinder so viel in kurzer Zeit hinzulernen können, wenn sie sich sicher fühlen können und gut und liebevoll versorgt werden? Die Antwort ist: Sie haben es erfahren, sie haben es erlebt und über jeden kleinen Fortschritt haben Sie sich gefreut. Das gleiche gilt für das Lernen mit den Kindern.
Zusammengefasst sind dies die Zauberwörter, die Lernen möglich machen: Spielen, Beziehung, Erfahrungen sammeln, emotionale Beteiligung, Bewegung und Dinge erschaffen. Dass jemand da ist, um Fragen zu beantworten und Dinge zu erklären, wenn die Kinder sich dafür interessieren.
Und hier einige Möglichkeiten, die Sie individuell nutzen können, um das Lernen für Ihr Kind leichter, spielerischer, bewegter zu machen:
- Finden Sie Alternativen zu Arbeitsblättern! Warum soll ein Kind die Uhrzeit auf einem Arbeitsblatt üben, wenn doch in jedem Haus diverse Uhren zur Verfügung stehen? Kinder müssen Dinge BEGREIFEN, um sie zu verinnerlichen. Wann immer möglich, nutzen Sie Uhr, Zollstock, Maßband, Litermaß und Co, um Ihr Kind beim Begreifen zu unterstützen. Fragen Sie doch einfach Ihr Kind nach der Uhrzeit, statt auf Ihr Handy zu gucken, lassen Sie Ihr Kind beim Basteln, Handwerkern oder Backen und Kochen messen usw.!
- Nutzen Sie Humor! Machen Sie Quatsch mit Ihrem Kind! Zum Beispiel: Um das Steigern von Adjektiven zu üben, nutzen Sie Stufen, bauen Sie eine Treppe aus Stuhl, Tisch und Co! Sie sagen Ihrem Kind ein Adjektiv in der Grundform („schnell“) – Ihr Kind wiederholt das Wort, steigt eine Stufe höher und sagt „schneller“ – steigt noch eine Stufe höher und sagt „am schnellsten“. Dann springt es von der höchsten Stufe herunter, haut vielleicht noch auf eine Halli Galli Klingel und Runde zwei beginnt.
- Mogeln erlaubt! Ist der Berg der Hausaufgaben zu groß, mogeln Sie mal! Machen Sie die Hausaufgaben für Ihr Kind mit – oder übernehmen Sie das einfach einmal ganz für Ihr Kind.
Jetzt mag der ein oder andere erschrocken auf diesen Brief starren und den Kopf schütteln. Doch ich meine die Aufforderung ganz ernst.
Ich möchte Ihnen zwei Beispiele nennen:
- Nils tut sich extrem schwer mit der Stifthaltung. Schreiben ist mühevoll und schriftliche Hausaufgaben dauern ewig. Rechnen mag er, doch die vielen Aufgaben auch noch abschreiben, ist für ihn eine Qual. Hier wäre ein kleiner „Mogelweg“ hilfreich. Also helfen Sie: Schreiben Sie die Aufgaben und Nils diktiert das Ergebnis. Und wenn eine Lehrerin dies nicht gutheißen will, dann üben Sie sich im Kopieren der Handschrift Ihres Kindes.
- Deutsch-Hausaufgabe in Corona Zeiten: Schullektüre Klasse 8. „Lest das Buch XXX und schreibt zu jedem Kapitel ein Inhaltsverzeichnis.“ (Das Buch hat 49 Kapitel) Eine schier unmögliche Aufgabe für Samira, da sie sich mit dem Verfassen eigener Sätze aufgrund einer Sprachentwicklungsverzögerung enorm schwer tut. Das Zusammenfassen eines Kapitels kostet Samira unglaublich viel Kraft und Zeit.
Samira ist es dabei unglaublich wichtig, die Aufgaben komplett erledigt abzugeben. Also könnte man auch hier vielleicht etwas mogeln: Fünf Kapitel müssen langsam und intensiv von Samira bearbeitet werden und gemeinsam wird eine Inhaltsangabe geschrieben. Da dieser Prozess schon unglaublich viel Zeit in Anspruch nimmt, wird Samira in Aussicht gestellt, die restlichen Inhaltsangaben nicht mehr eigenständig verfassen, sondern nur noch abschreiben zu müssen. Oder die Inhaltsangaben werden ihr einfach diktiert. Die Inhaltsangaben zu Schullektüren findet man dafür im Internet. Samiras Eltern haben sie umformuliert und vereinfacht und Samira hat sie aufgeschrieben – was für sie trotzdem schon anstrengend war.
Die gewonnene Zeit nutzt Samira, um das Formulieren von Sätzen zu üben – was hier sehr viel mehr Lerneffekt und weniger Frust mit sich bringt.
- Erfahrungsgemäß ist es so, dass viele Pflegekinder aufgrund einer Sprachentwicklungsverzögerung mit abstrakten Begriffen Schwierigkeiten haben. Hier eine kleine Sammlung aller Begrifflichkeiten, die in der Grundschule gelernt werden sollen.
Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Umkehraufgabe, Gegensatzpaar, Anlaut, Endlaut, Verb, Adjektiv, Subjekt, Prädikat, Präsens, Futur, … und das ist nur ein Bruchteil dessen, was an Fremdwörtern auf die Kinder einprasselt.
Von meinen Fortbildungen weiß ich, dass von den Menschen, die Kinder bei den Hausaufgaben in der Schule begleiten, in der Regel mindestens 50 % diese Begrifflichkeiten ebenfalls nicht sicher zu erklären wissen. Egal ob es sich um pädagogische Fachkräfte, Aushilfskräfte, Studenten, FSJ´ler … handelt. Selbst viele Erwachsene kommen bei diesen Fachwörtern ins Schleudern. Kein Wunder, dass Kinder mit einer Sprachentwicklungsverzögerung dann oft keinerlei Idee haben, was diese Begriffe ihnen sagen sollen und in der Folge auch nicht wissen, was genau gerade in einer Aufgabe von ihnen verlangt wird. Diese Erkenntnis ist deshalb so wichtig, weil häufig von Kindern erwartet wird, diese Begriffe automatisch zu verstehen und anwenden zu können. Doch sie stellen einen gewaltigen Stolperstein dar – und eben nicht nur für die Kinder, die sich im sprachlichen Bereich schwertun.
Ich telefonierte vor einigen Tagen mit meiner Freundin und erzählte ihr von meiner Einschätzung, zu diesem Thema und dass ich viele dieser Begrifflichkeiten wie „Adjektive“, „Gegensatzpaare“ etc. für überflüssig hielte. Ich sagte ihr, dass, wenn es nach mir ginge, dass gesamte Curriculum in Schulen gründlich „abgespeckt“ und sprachlich vereinfacht werden müsste. Als ich endete, lachte sie und sagte: „Sehr interessant, aber ich weiß weder noch genau was Adjektive sind, noch was das andere Wort bedeutet, was du da gesagt hast.“
Stellen Sie bei Ihrem Kind fest, dass es über viele dieser Begrifflichkeiten stolpert, dass es Ihnen nicht sicher erklären kann, was mit diesem Wörtern gemeint ist (ohne, dass Sie als Elternteil Hilfestellungen geben), dann gibt es zwei wichtige Schritte:
- Schauen Sie gemeinsam nach einer lustigen Eselsbrücke, die hilft, dass sich Ihr Kind das Wort besser merken kann. „Präteritum – die Zeit ist um“ zum Beispiel.
- Glauben Sie nicht den Aussagen von Lehrern, die glauben zu wissen, was Ihre Kinder können müssen, um im Leben zu bestehen! Nur weil ein Kind das Wort „Adjektiv“ nicht sicher dem „Wie-Wort“ zuordnen kann, heißt das nicht, dass es nicht wunderbar viele tolle Adjektive in seinem Kopf hat! Lassen Sie nicht zu, dass man Ihren Kindern vermittelt, sie wären zu dumm, um sich Dinge zu merken, um etwas zu lernen, oder zu dumm, weil sie etwas Bestimmtes nicht wüssten. Im Leben kommt es auf vieles an, aber nicht darauf, wer am schnellsten das Wort „Plusquamperfekt“ erläutern kann!
Ich erinnere mich, dass ich selbst aus der Schule entlassen wurde, mit dem festen Glaubenssatz, ich könne keine Texte schreiben. Ich kann mich an die vielen Stunden erinnern, in denen ich – wie ein hypnotisiertes Kaninchen – vor einem leeren Blatt Papier saß. Mir fiel einfach nichts ein. Was sich in meinem Kopf festsetzte, war der Gedanke „Ich kann nicht.“
Meine Pflegeeltern legten die Verantwortung für mein Lernen in die Hände der Schule, in dem Glauben, das sei das Beste. Immerhin war es ja eine bischöfliche fortschrittliche Schule, die gerade neu gegründet worden war. Das Schlimmste für mich war, dass niemand da war, der mich verstand oder mir erklärt hätte, dass es völlig in Ordnung ist, wenn man den Kopf für das Lernen nicht frei hat. Vor allem dann nicht, wenn das Thema einen so gar nicht interessiert oder wenn einfach gerade andere emotionale Themen oder Interessen Vorrang hatten. Und wie Sie sehen, scheine ich das Schreiben ja doch noch gelernt zu haben.
Schieben Sie Ihre Bedenken, die Sie haben, ab und zu zur Seite und vermitteln Sie Ihren Kindern wann immer möglich, dass Sie in ihre ganz individuellen Fähigkeiten vertrauen, dass Sie darauf vertrauen, dass Ihr Kind seinen Weg machen wird, dass Ihr Kind weiß, dass Schule und Schulinhalte nicht alles sind, dass Ihr Kind um die Qualitäten weiß, die es mitbringt. Und – verbalisieren Sie es auch vor den Kindern – wieder und wieder.
Wir brauchen Eltern, die Verantwortung nicht nur an Institutionen abgeben, sondern ihre eigenen Kinder im Blick haben und Mut zeigen, sich für ihre Kinder einzusetzen. Das bedeutet auf der anderen Seite aber auch, den Kindern etwas zuzutrauen und ihnen Verantwortung zu übergeben.
In diesem Sinne: Genießen Sie die Zeit mit Ihren Kindern!
Marie Gorschlüter