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Erfahrungen einer erwachsenen Legasthenikerin – Teil 1

(Anmerkung: Die Rechtschreibung ist im folgenden Text korrigiert worden, ebenso sind Kommata eingesetzt worden, um eine leichtere Lesbarkeit zu ermöglichen. An den Satzkonstruktionen und Formulierungen wurde jedoch nichts verändert) 

Das Schriftstück, das ich hier geschrieben habe, hat mir eine ganze Menge an Kraft abverlangt.

Es war bislang mein best gehütetes Geheimnis. Ich gebe hier viele meiner Gedankengänge und damit verbundenen Gefühle preis.

Ich habe mehrere Wochen an dem Text geschrieben, teils mit großen Unterbrechungen, weil mir ein Weiterschrieben wegen der aufkommenden Bilder und Szenen aus der Vergangenheit und den damit verbundenen Gefühlen nicht möglich war.

Ich sehe mich an der Tafel stehen und ein Diktat schreiben, während meine Klassenkameraden es in ihre Hefte schreiben. Sind alle fertig, wird mein Diktat im Klassenverband durch Aufzeigen der Schüler, die die Fehler in meinem Schriftstück heraussuchen, korrigiert und anschließend per Klassenabstimmung bewertet.

Der Lehrer ruft mich nach vorne während einer Stillarbeit im Unterricht und mit wird in Geschenkpapier ein Lesebuch überreicht. Die Klasse die vorher still war, murmelt und kichert, sehen mich spöttisch an.

Im Klassenverbund wird gelesen und ich werde immer wieder herausgepickt um vorzulesen.

Ich stammele die Wörter heraus, habe kaum Luft zum Atmen, geschweige denn zum Lesen. Sehe die Bilder des Spottes durch die Klassenkameraden.

Ich sehe meine Mutter, die hinter mir steht oder sitzt, wie ein Oberfeldwebel und mich immer wieder mit Fingerzeig korrigiert wenn ich mich verschrieben oder verlesen habe.

Meine Klassenkameraden, die auf dem Schulhof meine Schwäche lauthals an andere preisgeben.

Spüre die Ausgrenzung durch meine Mitschüler, indem niemand mit mir spricht, mich zu seinem Geburtstag einlädt oder sich mit mir zum Spielen verabredet.

Niemand zu meinem Geburtstag kommt, trotz viel verschickter Einladungen.

Sehe mich meinen Kummer und Schmerz heimlich wegfuttern, bis mir schlecht ist und ich das Gefühl der Kränkung nicht mehr spüre.

Die Erinnerungen an den genannten und weiteren Demütigungen und Bloßstellungen in ähnlicher Art und Weise machten mir ein Weiterschreiben fast unmöglich.

Ich fühlte mich jedes Mal, wenn ich wieder etwas schreiben konnte, über mehrere Tage hin sehr unsicher und hatte das Gefühl, alle die mich ansehen oder sich mit mir unterhalten, wissen Bescheid. Ich hatte oft das Gefühl mich verteidigen zu müssen, wusste nur nicht gegen wen oder was und warum. Lag stets auf der Lauer, mit Ängsten behaftet, dass mich jemand jetzt in diesem Moment wieder so kränkt wie früher. Wertete an mich gerichtete Kritik als persönlichen Angriff.

Fühlte mich wie ein scheues Reh, jeder der in meine Nähe kam wurde von mir als Feind oder Eindringling betrachtet. Meine Sucht trat in diesen Tagen besonders stark auf. Alle angewandten psychologischen Hilfestellungen, um die Sucht zu mindern, wirkten nicht, was mich natürlich sehr verärgerte.

Das bis eben Genannte beschreibt eine für mich mögliche Ursache der LRS, die bereits im frühen Kindesalter seinen Lauf genommen hat und Stück für Stück weiter ausgebaut wurde, wie eine dreispurige Autobahn.

Ehe man sich umsieht, ist aus dem Kind von damals eine Erwachsene geworden, die in ihrer Lebensgeschichte diese schere Last trägt. Jetzt stehe ich da als Erwachsene und eigentlich suche ich Schutz vor den Hindernissen in meinen jetzigen Alltagssituationen. Den Schutz und auch Trost, den ich damals gebraucht hätte.

In der Gesellschaft wird es als selbstverständlich gesehen, dass Erwachsene, ohne erkennbare Behinderung, lesen und schreiben können. Ist das nicht der Fall, werden unverständliche, teils fragende Blicke, an die Betroffenen gerichtet. Ich bin so ein Mensch, der solche Blicke kennt.

In solchen Momenten interpretiere ich einen ganzen Fragen- und Aussagenkatalog in die Köpfe meiner Gesprächspartner z.B.:

Wie, du kannst nicht richtig lesen?

Was, du kannst nicht richtig schreiben?

Wie, bist du dumm?

Warum kannst du das denn nicht, das ist doch ganz einfach …

Mit solchen und weiteren selbst niedermachenden Sätzen wie: War ja klar, dass du das wieder nicht hinbekommst.

Bist eben ein Dummchen und wirst es auch bleiben.

Bist halt zu blöd, um richtig zu schreiben und zu lesen.

Hättest in der Schule mal besser aufgepasst, dann könntest du das jetzt.

Einmal dumm, immer dumm.

Das Sprichwort stimmt: Dick ist gleich doof.

Das passiert ja auch nur dir.

So doof kannst ja auch nur du sein.

Bist halt zu blöd um das zu kapieren.

Im Laufe der Zeit hat sich ein Mechanismus in Gang gesetzt der einen Rattenschwanz an selbstverletzenden Gefühlen, Demütigungen und Bloßstellungsgefühlen im Gepäck hat.

In solchen Situationen fühle ich mich klein und minderwertig. Es entsteht in mir eine Unsicherheit, die eine gewisse Symptomatik zeigt. Meine Hände beginnen zu schwitzen, meine Augen wandern ziellos umher und vermeiden den Blickkontakt mit meinen Gesprächspartnern.

Treffen sich doch die Blicke, reagiere ich mit einem unsicheren Lächeln.

Mir wird kalt und gleichzeitig heiß, ich spüre wie mir die Röte ins Gesicht steigt.

Meine Knie zittern, mir wird schwindelig und ich habe das Gefühl, dass mit die Luft wegbleibt.

Die Symptomatik tritt je nach Bekanntheitsgrad der Gesprächspartner unterschiedlich stark auf.

Immer im Gepäck: die Angst erwischt zu werden. Gleich ist es soweit: du wirst enttarnt.

Dein Geheimnis kommt ans Licht.

Die stille Hoffnung, dass alles gut geht, dich eben keiner erwischt, keiner bloßstellt und „Hoffentlich geht das hier schnell vorbei“ waren ebenso wichtige Begleitsätze, die mir halfen, die Situation zu überstehen, wie die Gewissheit zu haben, dass meine Sucht bei mir ist, wir schon all die Jahre und mir hilft, wenn es nicht geklappt hat.

Die Stille, die zwischen mir und meinem Gesprächspartner eintritt, wenn mein Geheimnis gelüftet wird und bis dann die ersten Sätze wieder gesprochen werden, ist für mich, als wären es Stunden, fast nicht auszuhalten.

Öfter entsteht ein Gefühl der Panik in mir und am liebsten würde ich laut schreien, mich verstecken oder weglaufen. Mir ist alles egal, nur möglichst schnell raus aus dieser Situation, Dieses Gefühl in die Ecke gedrängt worden zu sein, lässt Wut aufsteigen, die aber in diesem Moment nicht weg kann, denn ein Erwachsener tobt nicht, wenn er etwas vorlesen soll oder fegt die Hefte vom Tisch.

Meine Gesprächspartner ahnten ja nicht, was gerade in mir vorgeht oder was ich am liebsten getan hätte und sollten es auch unter keinen Umständen erfahren.

Somit schlucke ich meine Angst und Wut auf mich selbst herunter, mit dem Wissen, dass mir das nicht gut tut, doch was sollte ich sonst tun.

Ratlosigkeit und Verzweiflung trat ein.

Bislang habe ich die Verzweifelung und die unterschwellig mitlaufende Wut auf mich selbst, es nicht geregelt zu bekommen, mit Essen kompensiert. Das Ergebnis ist ein massives Übergewicht mit einer Suchtproblematik.

Trotzdem liegt es für mich stets klar auf der Hand: Dass ich alles in meiner Macht stehende tue, um eine solche Situation zu vermeiden. Die Ausrede öffentlich nicht Schreiben und Lesen zu müssen sind weit gefächert:

„Ich habe meine Brille gerade nicht dabei, bitte lesen Sie es mir vor.“

„Von meiner Position aus blendet es, ich kann es so nicht sehen.“

„Ich nehme das Schriftstück mit nach Hause, überlege es mir und melde mich in den nächsten Tagen.“

Lenke ab durch Reden und täusche eine angeregte Unterhaltung vor, wenn ein „Freiwilliger“ gesucht wird, um etwas vorzutragen.

Schaue weg und versuche mich unsichtbar zu machen.

Gehe zum WC oder versuche mich unsichtbar zu machen.

Ich habe Textstellen, die vorzutragen waren, teils auswendig gelernt.

Jede Situation die ich bislang so erfolgreich abwehren konnte, wertete ich als Erfolg.

Ich fühlte mich später als Sieger mein Gegenüber so getäuscht haben zu können, dass dieser meine Schwächen nicht bemerkte.

Situationen, die ich bislang nicht abwehren konnte, stürzten mich in ein Gefühlschaos. Ein Teil von mir war erleichtert sich nicht mehr verstecken zu müssen, der andere stets überwiegende Teil fühlte sich erwischt und sofort bloßgestellt. Es hat sich so automatisiert, dass ich nur an eine Vorlese- oder Vorschreibsituation denken brauche und schon beginnt meine Symptomatik sich wie von Geisterhand zu verselbstständigen.

Tritt es dann tatsächlich ein, dass ich vorlesen muss, bringe ich kaum ein Wort heraus; ich stottere mich durch den Text, versuche mich herunterzufahren, doch es gelingt mir nicht. Worauf sich mein Augenmerk stets richtet, sind die Blicke und Kommentare der Zuhörergemeinschaft, lächeln sie sich gegenseitig an, stecken die Köpfe aneinander und tuscheln hinter vorgehaltener Hand oder verdrehen die Augen, so münze ich es auf mich.

Logisch lachen die über dich.

Bist ja die totale Witzfigur.

So wie du hier rumstotterst musst du dich auch nicht wundern.

Du kriegst es einfach nicht gebacken.

Die haben völlig Recht. Du bist schon in der soundsovielten Klasse und kannst es immer noch nicht.

Du bringst es nicht.

Ich kam so immer tiefer in den Strudel der Selbstverletzung, fühlte mich immer kleiner und kleiner und wie der letzte Dreck.

Mein Rettungsanker, meinen Kummer mit vorwiegend Süßem zu kompensieren, wurde zu meinem besten Schutzmechanismus. Je mehr Niederlagen ich erfuhr, umso mehr habe ich gegessen. Irgendwann kam dann der Zeitpunkt, dass sich auch das verselbstständigte und ich es nicht mehr stoppen konnte, so sehr ich es auch wollte.

Ich habe jetzt jedoch erkannt, dass ich mich damit selbst belüge, mir was vormache und vor mir selber und meinem Problem davonlaufe. Das Ganze betrachte ich nun als einen Prozess, an dem ich wachsen kann.

Ich vergleiche es mit dem Laufenlernen: Bis jemand es kann ist die Erfahrung da, dass es Stürze gibt und dass man wieder aufstehen kann. Wichtig ist nur, dass das Ziel, Laufen lernen zu wollen, nicht aus den Augen gelassen wird.

Auf mich übertragen hieße das, dass ich mich immer wieder diesen Situationen stelle, auch wenn die peinlich sind. Lerne offen damit umzugehen, so verliere ich Stück für Stück die Angst und kann mich mit meinem neu gewonnenen Selbstwertgefühl einen Schritt weiter nach vorne wagen und irgendwann richtig Lesen und Schreiben.

Mein Ziel ist es, nicht die Hoffnung aufzugeben eines Tages richtig Lesen und Schreiben zu können.

Ich habe festgestellt, dass ich, je offener ich mit meinem Problem umgehe, mein Umfeld nicht so negativ darauf reagiert, wie ich es bislang immer angenommen habe.

Seit ein paar Wochen praktiziere ich in meinem engeren Freundes- und Bekanntenkreises, dass ich offiziell zu meiner Schwäche stehe. Ich merke, dass ich dadurch selbstbewusster werde und habe auch das Gefühl, dass meine Umwelt mich anders wahrnimmt.

Ich nehme mich anders war.

Das zurückkehrende Selbstwertgefühl empfinde ich als sehr angenehm es bestärkt mich darin, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe um mit meinem Handicap, dem nicht richtig lesen und schreiben zu können, die Chance habe zu wachsen. Es gibt natürlich noch viele Situationen, von denen ich am liebsten fliehen würde mit meinen altbekannten Mustern, doch mir fallen diese Muster mehr und mehr auf. Ich mache die mir bewusst, heiße meine aufsteigende Angst und Panik willkommen.

Ah, da bist du ja meine Angst.

Ich spüre dich nehme dich wahr.

Du darfst da sein.

Gut dass ich dich habe.

Du bist da; dann sind wir ja komplett.

Ich brauche dich hier und jetzt.

Ich habe festgestellt, dass sich, je wohlwollender ich mit meiner Angst in Kontakt trete, sie umso kleiner wird. Sie nicht mehr so feindlich wirkt. Es hat auch schon Momente gegeben, wo ich sie nicht gespürt habe, es aber im Nachhinein bemerkt habe.

Ich habe noch einen langen Weg vor mir, bin mir aber sicher, diesen Weg zu gehen und ihn auch zu schaffen.

Durch die Unterstützung in meinem Umfeld und den Glauben an mich selbst, wird mir das mit Sicherheit gelingen.

Beispiel: Neulich habe ich mir mit meiner Freundin einen Musical-Film im Kino angesehen. Dieser Film ist deutschsprachig und der gesungene Text ist in Englisch und in Deutsch untertitelt.

Natürlich kannte ich die Lieder, aber nur in der Melodie, nicht aber die Übersetzung der Texte.

Diese Tatsache störte mich bis dahin nicht weiter, nur jetzt in diesem Film störte es mich, denn ich wollte den Film komplett sehen und verstehen.

Ich bemühte mich daher die Untertitel zu lesen. Leider konnte ich von den zwei Reihen Text, die angezeigt wurden, gerade Mal eine Zeile lesen, bevor neue Zeilen eingeblendet wurden.

Die Lieder verstand ich somit nicht richtig, was mich verärgerte und ich mehr Energie daransetzte die Untertitel zu lesen.

Es gelang mir nicht und ich begann mich selbst zu maßregeln mit den für mich in solchen Situationen typischen Sätzen:

„War ja klar, dass du das wieder nicht hinbekommst.“

„Bist eben zum Lesen zu dumm.“

„Lies doch einfach was da steht.“

„Konzentriere dich doch mal.“

„Du bist und bleibst halt ein Lesedepp.“

Meine Verärgerung über mich selbst wuchs.

Mir wurde heiß, ich merkte wie mir die Röte ins Gesicht stieg, mein Herz begann schneller zu schlagen, ich wurde innerlich nervös und begann auf dem Sitz unruhig hin und her zu rutschen. Meine Atmung veränderte sich. Das bemerkte auch meine Freundin und erkundigte sich ob es mir gut ginge. Was ich mit einem schnellen aber gelogenen „Na klar“ beantwortete.

Ich wollte nicht den wahren Grund nennen, weil ich glaubte mich gleich wieder herunterfahren zu können, was mit jedoch nicht gelang, wie ich es kurze Zeit später erfahren sollte.

Dadurch, dass ich mich nur noch auf die Texte konzentrierte, bekam ich die Gestiken und Mimiken des Films nicht mehr mit und gerade das ist es, was diesen Film, meiner Meinung nach, so schön machen.

Die Gesamtsituation verärgerte mich mittlerweile so sehr, dass ich sprichwörtlich innerlich zu kochen begann. Ich weiß, dass es sinnvoller gewesen wäre die Untertitel zu ignorieren und mit den Film anzusehen, doch genau das habe ich nicht hinbekommen.

Meine Freundin sprach mich erneut an. Wieder mit der gleichen Frage. Dieses Mal war ich jedoch ehrlich und flüsterte ihr mein Problem zu.

Sie reagierte sehr verständnisvoll, hielt meine Hand, um mich zu beruhigen und sagte, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass sie mir den Text eben Vorlesen würde, wenn ich damit einverstanden wäre.

Ich bejahte dieses, wir lächelten uns an, ich drückte ihr zum Dank die Hand, was die erwiderte.

Wir rutschten mit unseren Köpfen dicht aneinander und sie flüsterte mir nun den eingeblendeten Text zu.

Ich war erleichtert, konnte mich wieder herunterfahren, meine Atmung wurde ruhiger und ich entspannte mich. Der Druck, es lesen zu wollen um jeden Preis, wurde mir abgenommen. Das war für mich ein beruhigendes Gefühl.

Den Rest des Films konnte ich in Ruhe genießen.

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